Afghanistan: Weinet mit dem Weinenden!

 

Dramatische Bilder aus Kabul gehen um die Welt. Sie bewegen jeden, der sie sieht. Noch viel direkter betroffen sind die afghanischen Flüchtlinge, die bei uns leben. Sie sind nah dran und doch so fern von ihren Familien und Landsleuten.

 

Schmerz, Trauer, Verzweiflung, Angst. Viele Migranten aus Afghanistan können selbst mit starken Medikamenten kaum noch schlafen. Sie sehen die Meldungen in den Medien, telefonieren mit Angehörigen, senden WhatsApp-Nachrichten, versuchen irgendwie Hilfe zu organisieren. Am liebsten möchten sie ihre Familien sofort in die Schweiz holen und ihnen Schutz bieten. Aber das ist unmöglich. Auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leiden mit ihren Freunden. Einige aus dem Team «Asyl und Migration»  sind besonders betroffen, weil sie seit Jahren Migranten aus Afghanistan begleiten oder sogar schon selber dort gelebt haben. Wie kann man helfen? Was soll man sagen? Was sagt und tut man in dieser ersten Phase des Leidens besser nicht?

 

Der Schmerz von früher ist plötzlich wieder da

Zwei Migrationsbegleiter laden ihre afghanischen Freunde zu einem speziellen Hauskreistreffen ein. Nur die gläubigen Christen. Denn es soll eine Zeit sein, in der man ganz offen und ehrlich Gefühlen, Gedanken und dem Zweifel freien Lauf geben kann. Ohne Bedingungen. Ohne Vorwürfe. Ohne billige Trostworte, die jetzt die Tiefe der Seele sowieso nicht erreichen würden.

 

Die Afghanen kommen und bringen alle ihre Lasten, Ängste, Sorgen und Zweifel mit. Es wird schnell klar: Die Not und der Schmerz sind unendlich gross. Und es schwebt die Frage im Raum: «Wo ist Gott? Warum hilft er nicht?» Eine Frau in der Gruppe hat vor 25 Jahren den ersten Einmarsch der Taliban auf dramatischste Weise erlebt. Nun spülen die Bilder aus Kabul alles wieder an die Oberfläche ihrer Seele. Sie weint und weint. Denn sie weiss sehr wohl, was nun in ihrer Heimat erneut geschieht.

 

Was hat sie erlebt? Ihr einjähriges Kind ist krank. Sie will mit ihm zum Arzt, geht über die Strasse – mit einem Kopftuch verhüllt, so wie es bisher üblich war. Dann wird sie von den Taliban gestoppt. Sie reissen ihr den Sohn aus den Armen, fesseln die erst 15-jährige Mutter und peitschen sie aus. Sie hätte nun ihren ganzen Körper verhüllen sollen. Auch die Hände schlagen sie ihr blutig, weil die Fingernägel lackiert sind. Nun sitzt sie weinend und zitternd da. Der ganze Schmerz ist durch die neuen Ereignisse in der Heimat zurückgekommen. Auch die anderen Teilnehmer sind voller Schmerz und Verunsicherungen. Ihr Glaube wird hart auf die Probe gestellt.

 

Unbeantwortete Fragen, Wut, Ohnmacht, Zweifel an Gott und seiner Liebe wühlen sie auf, lassen sie Nächte voller Alpträume durchleben. «Gibt es Gott überhaupt? Wo ist seine Liebe? Wo seine Fürsorge?»

 

Ein junger Vater steht mitten im Prozess, seine Frau in den Schweiz zu holen. Es fehlen noch zwei Papiere. Corona hat alles verzögert, auch die Schwangerschaft seiner Frau hat den Prozess verlangsamt. Das Kind wird ohne Beisein des Vaters geboren. Er kann es erst einige Wochen nach der Geburt in die Arme nehmen. Und dann muss er erneut ohne Familie zurück in die Schweiz reisen, weil der Pass fürs Kind nicht fertig ist. Und nun sind die beiden noch immer in Afghanistan. Der Vaters schläft kaum, muss jeden Tag 100 % arbeiten. Was geschieht mit ihnen?

 

Raum, um zu klagen und zu weinen

 

Jede und jeder hat an diesem Abend seine eigene Geschichte mit an das Treffen gebracht, auch wenn die Ereignisse in ihrer Heimat alle schmerzvoll verbindet. Die Zukunft ist für alle wenig hoffnungsvoll, sehr ungewiss und fern aller Vorstellungskraft. Doch heute darf jeder sein wie er ist. Sagen, wie er sich fühlt. Zweifeln, trauern weinen. Unser Mitarbeiter spricht über das Leiden des Paulus, über seine Erlebnisse im Gefängnis. Leiden gehören zum Leben, gehören zum Christsein. Das wird in der Bibel nicht verschwiegen.

 

Und es wird nun durch die aktuellen Ereignisse allen Afghanen sehr schmerzlich bewusst. Manche Migranten erleben Christsein in der Schweiz als Freiheit, als einen Ort, an dem sie Liebe erleben und Freunde finden. Sie erfahren Christsein als einen wohltuenden Kontrast zum Leben in ihrer früheren Heimat. Doch nun erschüttern sie die Ereignisse in Afghanistan.

 Sogar der Glaube jener, die schon lange Jesus nachfolgen, wankt! Denn das Leid ist so unglaublich schnell und intensiv mitten in ihr Leben geplatzt.

 

Der Redner erinnert alle daran, dass Jesus gesagt hat: «In der Welt habt ihr Angst!» und dass auch Jesus selbst den bitteren Kelch des Todes am liebsten hätte an sich vorbeigehen lassen. Doch gerade durch sein Leiden und Sterben gibt es Hoffnung, gibt es Trost, gibt es eine Zukunft: «Denn ER hat die Welt überwunden». Heute, so ganz mitten in den aufwühlenden Ereignissen, ist vielen Afghanen ein hoffnungsvoller Blick in die Zukunft verwehrt. Zu gross ist der Schmerz. Zu wenig fassbar die Gedanken an eine gute Zukunft. Deshalb dürfen sie – ja, sollen sie – trauern, klangen, weinen, erzählen und mit Freunden teilen, was sie so sehr beschäftigt und quält. Es ist Klagezeit!

 

In der Not nicht alleingelassen sein

 

Kleine Gruppen werden gebildet. Frauen beten für Frauen, Männer für Männer. Und für eine kurze Zeit steht das gemeinsame Klagen und Trauern über Corona. Weinen, sich umarmen, beten, segnen. Miteinander wird der Schmerz erträglicher! Es tut gut, zu spüren, dass Freunde mit-weinen, mit-trauern, mit-klagen. Es tut gut, in der Not nicht alleingelassen zu sein. Trotz Not, Angst und Zweifel werden die Sorgenwolken aufgebrochen und himmlische Lichtstrahlen erfassen da und dort die verängstigten Seelen. Man spürt eine grosse Dankbarkeit der Afghanen, dass ihre Freunde in diesen schweren Zeiten ganz bewusst zu ihnen stehen und sie ihr Leid mit ihnen teilen können. In ihrem Gebetsaufruf schreibt eine MEOS-Mitarbeiterin: «Ich denke nicht, dass es an der Zeit ist, darauf hinzuweisen, was Gott aus diesem Schrecklichen alles an Gutem entstehen lassen kann. Ich persönlich glaube, dass momentan die Zeit ist, mit unseren afghanischen Freunden zu weinen, zu klagen, zu Gott zu schreien, so wie es uns in den Psalmen sehr oft begegnet.»

 

Hans Ueli Beereuter